KUNSTCHRONIK WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE
Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstr. 13 Neue Folge. XIV. Jahrgang 1902/1903
Nr. 31. 17. Juli.
Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommermonaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfasst 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte etc., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13. Anzeigen 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen ausser der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Haas enstein & Vogler, Rud. Mosse u. s. w. an.
NEUE ZEICHNUNGEN MICHELANGELOS
Es war im Juni dieses Jahres, als ebenso plötzlich wie überraschend ein allgemeines Interesse für die Zeichnungen Michelangelo’s erwachte, ganz wie weiland nach Detmold’s satyrischer Erzählung im Jahre 1825 der Kunstsinn in der Stadt Hannover. Die Veranlassung hierzu war eine Nachricht in einer Berliner Tageszeitung, die rasch in die grossen deutschen Blätter überging. »Die Kunstgelehrten Jacobsen und Ferri«, so hiess es etwa, »entdeckten in den Uffizien vierzig bisher unbekannte Zeichnungen Michelangelo’s«. Wie war es möglich, wurde gefragt, dass ein solcher Schatz sich hat verborgen halten können?
Vielleicht ist es gut, dass ich den Bericht des eigentlichen Entdeckers, P. N. Ferri’s, der seit mehreren Jahrzehnten mit so viel Verständnis, als Bescheidenheit das Departement der Zeichnungen in den Uffizien verwaltet, sowie es in Heft 5/6 der »Miscellanea d’artezu lesen steht, nacherzähle. Die in Frage kommenden Blätter, zehn an der Zahl, gehören (mit einer Ausnahme) in das achtzehnte Tausend des Inventars der Zeichnungen, das heisst in diejenige Abteilung, die noch keine systematische Aufstellung erhalten hat. Bereits 1886 hatte Ferri, dem das Gemeinsame im Stil dieser Blätter nicht entgangen war, aus ihnen eine Gruppe gebildet. Jetzt kam ihm bei erneuter Durchsicht der Gedanke, die flüchtigen Skizzen gehörten keinem andern als Michelangelo: er unterbreitete diese seine Ansicht, zu Unrecht dem eignen Auge misstrauend, dem Herrn E. Jacobsen, der in der Sammlung forschte. Dieser bestätigte die Richtigkeit des Fundes und hat Herrn Ferri bei der Bestimmung einiger Motive hilfreiche Hand geboten. So kommt es, dass der Artikel, in dem die Blätter erstmalig beschrieben und einige publiziert werden, die gemeinsame Unterschrift beider Herren trägt und der Ruhm der Entdeckung dem eigentlichen Finder, Ferri, in der Presse geschmälert worden ist.
Aber kann man wirklich von einer Entdeckung sprechen? Ich denke, ja und nein, im selben Sinn, wie man von einer Entdeckung sprach, als die Harlemer Zeichnungen, ebenfalls von Michelangelo, aufgefunden wurden, oder wie damals, als ein englischer Herr in einem Zimmer des Palazzo Pitti, in das nur diejenigen kamen, die dem Herzog von Aosta ihre
Aufwartung machten, Botticelli’s Pallas an der Wand hängen sah. Wer die Chance hat, an eine im allgemeinen nicht zugängliche Stelle zu gelangen, kann leicht einmal eine »Entdeckung« machen; in unserer Zeit, die alles unter einen sensationellen Titel und in illustrierte Tagesblätter bringt, wird das dann rasch in aller Welt herumgebracht. Aber man sollte von Entdeckungen nur sprechen, wo es sich wirklich um solche handelt. Es war ein ander Ding, als Friederichs in der vatikanischen Statue den Doryphoros Polyklet’s erkannte, oder Morelli in einem Dresdner Bild Giorgione’s Venus. Diese Werke hatten immer vor aller Augen gestanden, aber es bedurfte der Kennerschaft, zu bestimmen, welcher Platz ihnen gebührt.
Doch zurück zu den Zeichnungen, die an der genannten Stelle Blatt für Blatt kurz beschrieben sind. Blatt I, in Rotstift, zeigt auf der Vorderseite einen etwas geneigten männlichen Kahlkopf, auf der Rückseite einen sprengenden Reitersmann, von hinten gesehen. Unter den reproduzierten Zeichnungen erscheint diese als die schönste, ausserordentlich in der Bewegung, fast leonardesk; der Reiter hebt sich und scheint das Tier zu peitschen. Dieser Entwurf wird von den beiden Herren mit einer Gruppe aus dem »Sturz des Paulus« in der Cappella Paolina zusammengestellt.
Blatt II. Profilkopf eines Greises, bei aller Generalisierung doch sehr individuell geformt und auffällig an Julius’ II. herrische Züge erinnernd. Ein schöner Fund, dieses Porträt des grossen Roverepapstes von der Hand seines Temperamentsverwandten. Welch tiefes Innenleben verrät die Versunkenheit des Auges! Auf demselben Blatt, Vor- und Rückseite, finden sich in Silberstift Beinstudien.
Blatt III. Beinstudien, darunter Studium für das linke Bein der »Nacht«. Ebenso Rückseite. Silberstift.
Blatt IV. Entwurf für den Christus des »Jüngsten Gerichts«. Rückseite Bleistudien für dieselbe Figur.
Blatt V. Entwurf in Rötel für den Torso Gottvaters von der »Erschaffung Adams«. Ebendort flüchtige Beinstudien, wahrscheinlich für die sitzenden Gestalten der Mediceergräber. Federzeichnung des Stücks einer Lünette für die Sixtinische Decke. Rückseite: Entwurf für einzelne Jünglingsgestalten ebendort.
Blatt VI. Entwurf für eine Frauenfigur einer der
Lünetten ebendort.