KUNSTCHRONIK
Neue Folge. XXIV. Jahrgang 1912/1913
Nr. 25. 21. März 1913
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ZUR FRAGE DER NATURFORMEN IN DER GEOMETRISCHEN ORNAMENTIK
Von Karl Woermann
Seit Haeckels großes Werk1) uns tiefe Einblicke in die schöpferische Werkstatt der Natur eröffnet hat, in der eine Fülle der schönsten und regelmäßigsten Zierformen erzeugt wird, pflegen wir mit ihm von den »Kunstformen in der Natur« zu reden. Da die Natur jedoch älter ist als die Kunst der Menschen, ist es wenigstens für die Kunstwissenschaft richtiger, von den Naturformen in der Kunst zu reden. Fragen wir nach der künstlerischen Bedeutung aller dieser schönen, zum Teil schlichten, zum Teil außerordentlich reichen und entwickelten Schmuckformen, mit denen die Natur, z. B. die Blüten der Pflanzenwelt, die Leiber der niederen, namentlich in den Meerestiefen webenden Tierwelt, aber auch die Flügel der Schmetterlinge, das Gefieder der Vögel und die Haut der Schlangen ausgestattet hat, so stehen wir freilich noch keineswegs ohne weiteres vor der Frage nach dem Ursprung der geometrischen Ornamentik, mit der die Ur- und Vorgeschichte, die Völkerkunde und das Kunstgewerbe sich eingehender zu beschäftigen pflegen als die Kunstgeschichte. Dazu geht das Prachtwerk Haeckels, das ausgesprochenermaßen die von ihm veröffentlichten Naturformen der modernen Kunst erschließen will, zu wenig auf die schlichten und ursprünglichen Formen ein, in denen die Anfänge der geometrischen Verzierungskunst liegen, dazu hält es sich zu ausschießlich an die Gebilde der Tier- und Pflanzenwelt, und dazu führt es uns zu oft in eine entlegene und versteckte, zum Teil erst durchs Mikroskop erschlossene Formenwelt. Fragen wir nach den Naturformen, die bei der Entstehung der geometrischen Ornamentik in Betracht kommen, so müssen wir uns an einfache und allgemein bekannte und zugängliche Gestaltungen halten.
Auf diese Naturformen in der Kunst wird meiner Überzeugung nach in der herrschenden Anschauung ein zu geringes Gewicht gelegt. Eine*ZeitIang schien es sogar, als solle die Lehre, daß alle Zierformen ursprünglich aus der Technik, namentlich der Flechttechnik hervorgegangen seien, den Sieg davontragen, obgleich schon Al. Riegl auf die Einseitigkeit dieser Annahme hingewiesen hatte. Durch die Flechttechnik als solche können höchstens Netz- und Schachbrettmuster erzeugt werden. Sobald die Geflechtshalme sich auch nur zu regelmäßigen Vierecken oder Rauten, zu Zickzacklinien, Stufen oder Zinnen zusammenfinden, setzen sie voraus, daß der Künstler oder Handwerker absichtlich auf diese Formen hinsteuert. Von selbst
*) Ernst Haeckel, Kunstformen in der Natur. Leipzig und Wien, 1899 ff.
oder durch Zufall entstehen sie nicht. Ebenso verhält es sich mit der Geometrisierung der Tier- und Menschengestalten, die in.der Formententwicklungstheorie unserer Ethnographen eine Hauptrolle spielt und in vielen Fällen, in denen alle Zwischenstufen nachweisbar sind, auch unanfechtbar erscheint. Aber auch hier muß man sagen, daß die geometrischen Formen, in die die Tier- und Menschengestalten allmählich übergehen, doch im Bewußtsein, wenn auch vielleicht nur im Unterbewußtsein der »Künstler«, die zu ihnen hinüberstreben, vorhanden gewesen sein müssen; und gerade hier dürfen wir nicht vergessen, daß die Prähistoriker (seltener die Ethnographen) sich in anderen Fällen bemühen, einen umgekehrten Werdegang festzustellen, der geometrische Ornamente sich allmählich zu Tier- und Menschengestalten umbilden läßt. —
Daß die Technik bei der Entstehung vieler Ziermotive und namentlich bei ihrer Übertragung von einer Kunstfertigkeit auf die andere, eine entscheidende Rolle gespielt hat, soll freilich durchaus nicht in Abrede gestellt werden. Nur gegen die Verallgemeinerung dieses Erfahrungssatzes soll Einspruch erhoben werden. Daß viele einfache Ornamente in fertiger Ausbildung der Natur selbst abgesehen sind, die sie vorgebildet hat, ist zu offensichtlich, um bezweifelt werden zu können. Sieht man, daß Kreise als Abbildungen der Sonne und des Vollmondes schon früh in der Zierkunst der Ur- und Naturvölker auftreten, so sollte man nicht vergessen, daß auch die Augen der Menschen und Tiere deutliche Kreise, ja, bei den meisten Menschen und vielen Tieren deutliche konzentrische Kreise enthalten. Über den Ursprung oder einen Ursprung der konzentrischen Kreise — es ist nicht richtig, daß alles nur auf einem Wege entsteht — sollte daher kein Zweifel möglich sein; denn daß die Menschen einander von Anfang an in die Augen geblickt haben, wird man doch nicht leugnen wollen. Deutliche konzentrische Kreise aber treten neben ebenso deutlichen Zickzacklinien auch auf den Flügeln mancher Schmetterlinge, z. B. schon des gewöhnlichen Mauerfuchses, hervor. Ein Blick in die Natur lehrt dann auch, daß keine der papierenen »Verschiebungstheorien«, durch die im übrigen hochverdiente Gelehrte die Entstehung der Spiralen aus durchgeschnittenen konzentrischen Kreisen, der Mäanderzüge aus konzentrischen Vierecken erklären wollen, zum Verständnis dieser Kunstformen nötig ist. Gerade bei den Spiralen, um zunächst bei diesen zu bleiben, handelt es sich deutlich genug um die Wiedergabe von Naturformen in der Kunst; und auch hier hat die Natur die gleiche Formensprache in verschiedenartigen Gegenständen zum Ausdruck gebracht. Vollkommenere Spiralen als